Anwaltsbeitrag / von

„Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“

von Rechtsanwalt Norbert Schneider

An dieses Bibelzitat (Lukas 23:34) muss man unweigerlich denken, wenn man die Entscheidung des BAG vom 1.3.2022 – 9 AZB 38/21 (s. ZAP EN-Nr. 457/2022 betrachtet. Was war geschehen? Das LAG Berlin-Brandenburg hatte ein Berufungsurteil erlassen und den Gebührenwert für das Berufungsverfahren auf 13.650 EUR festgesetzt. Später hat es die Wertfestsetzung abgeändert und gegen diesen abändernden Beschluss die Rechtsbeschwerde zugelassen. Daraufhin hat die Klägerin Rechtsbeschwerde erhoben und geltend gemacht, dass der Gegenstandswert zu gering bemessen sei. Das BAG hat in dem zitierten Beschluss die Rechtsbeschwerde als unbegründet auf Kosten der Beschwerdeführerin zurückgewiesen.

Man muss sich wirklich erst einmal die Augen reiben und fragen, ob dies alles tatsächlich so abgelaufen sein kann und stellt dann ernüchtert fest, dass es tatsächlich auch so ist.

Das LAG hatte den Gebührenwert für das Berufungsverfahren, also den Streitwert (§ 3 Abs. 1 GKG), festgesetzt. Das ist auch nicht zu beanstanden, sondern nach § 63 Abs. 2 GKG sogar gesetzlich vorgeschrieben. Anschließend hat es die Wertfestsetzung geändert, wozu es nach § 63 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 GKG berechtigt war. Darüber hinaus hat das LAG in seiner Entscheidung die Rechtsbeschwerde gem. §§ 78 Abs. 272 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen. Die Frage, ob bei einer Kündigungsschutzklage und gleichzeitiger Klage auf Verzugslohn für die Zeit nach dem Kündigungstermin in objektiver Klagehäufung die Streitwerte der Klageanträge gem. § 39 GKG zu addieren seien, bedürfe „einer grundsätzlichen Klärung„. Dies war allerdings bereits der erste Fehler. Gegen Streitwertfestsetzungen eines Obergerichts ist nämlich eine Beschwerde nicht zulässig. Diese ist in § 68 Abs. 2 S. 7 i.V.m. § 66 Abs. 3 S. 3 GKG ausdrücklich ausgeschlossen. Eine Rechtsbeschwerde wiederum ist im GKG schon gar nicht vorgesehen. Dieses Rechtsmittel gibt es nach dem GKG überhaupt nicht. Das LAG hat also ein Rechtsmittel zugelassen, das es gar nicht gibt. Dies ist in der deutschen Rechtspraxis allerdings keine Seltenheit. Fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrungen und -zulassungen sind an der Tagesordnung – insb. in Kostensachen. Hier wird mangels Rechtskenntnis meistens vom Gericht im Formular ein Kreuzchen gesetzt, wo man es sonst auch immer setzt, in der Hoffnung, es würde auch diesmal passen. Nur manchmal passt es eben doch nicht.

Nun verhält es sich aber so, dass nach der Rechtsprechung ein Anwalt schlauer sein muss als ein Richter. Er muss nämlich erkennen, wenn eine fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung erteilt wird, „denn es gehört zu den allgemeinen Pflichten des Rechtsanwalts, Fehlleistungen des Gerichts zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken“ (OLG Nürnberg NJW 2022, 1182). Das gilt erst recht, wenn die Rechtsbehelfsbelehrung – wie hier – „offenkundig falsch ist und deshalb – ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand – nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermochte“ (OLG Bremen NJW-RR 2021, 1160). Offenbar war der Prozessbevollmächtigte der Klägerin aber nicht schlauer als der LAG-Senat oder hat nicht gewusst, dass er schlauer sein muss und hat das unstatthafte Rechtsmittel dann tatsächlich auch eingelegt. Nun gehört es aber zum prozessualen Basiswissen, dass ein unstatthaftes Rechtsmittel nicht deshalb zulässig wird, weil es zu Unrecht zugelassen worden ist (st. Rspr., BGH zur „Streitwertrechtsbeschwerde“: AGS 2009, 599; AGS 2010, 195; ZIP 2009, 2172; NJW-RR 2016, 188). „Die Bindungswirkung einer Rechtsmittelzulassung umfasst bei der Rechtsbeschwerde ebenso wie bei der Revision nur die Bejahung der in den §§ 574 Abs. 3 Satz 1 und 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO genannten Zulassungsvoraussetzungen. Die Zulassung eines Rechtsmittels kann dagegen nicht dazu führen, dass dadurch ein gesetzlich nicht vorgesehener Instanzenzug eröffnet wird.“ (BGH ZIP 2009, 2172).

Dabei hätte der Anwalt doch schon allein deshalb stutzig werden müssen, weil in Berlin grds. alles verkehrt läuft, sei es beim Flughafenbau, bei der Bundestagswahl oder auch bei der Hertha.

Stattdessen hat der Anwalt der Klägerin aber noch einen „draufgesetzt“ und die Beschwerde im Namen seiner Partei erhoben. Dabei gehört es zum Einmaleins des Streitwertrechts, dass eine Heraufsetzungsbeschwerde nur im Namen des Anwalts zulässig ist. Eine Partei kann zulässigerweise nur eine Herabsetzungsbeschwerde erheben. Nur der Anwalt kann durch einen zu geringen Wert beschwert sein, nicht aber die Partei. Eine Partei kann verständlicherweise kein Interesse daran haben, ihrem Anwalt, dem Gegner und dem Gericht höhere Gebühren zahlen zu müssen.

Das BAG hat von alledem nichts bemerkt und hat das unstatthafte Rechtsmittel, das darüber hinaus auch unzulässig war, beschieden und führt auf insgesamt sechs Seiten aus, weshalb die Wertfestsetzung des LAG zutreffend sei. In seinen Beschlussgründen hat das BAG dann den üblichen inhaltsleeren Textbaustein verwendet, den es immer verwendet: „Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet.“ Auf den Gedanken, dass das GKG sein eigenes Verfahrensrecht hat und die ZPO gar nicht anwendbar ist, ist das BAG offenbar nicht gekommen. Dabei hätte es doch auf der Hand gelegen, die Statthaftigkeit und die Zulässigkeit genauer zu hinterfragen, da das BAG normalerweise mit solchen – weil unstatthaften und unzulässigen Streitwertbeschwerden – ja gar nicht befasst wird. Man hätte doch stutzig werden müssen, dass hier plötzlich eine Rechtsbeschwerde gegen eine Wertfestsetzung aufschlägt.

Aber auch das BAG hat dann noch einen „draufgesetzt“ und die Beschwerde sodann „kostenpflichtig“ zurückgewiesen. Dabei hat das BAG übersehen, dass Streitwertbeschwerdeverfahren nach § 68 Abs. 3 S 1 GKG nicht nur gebührenfrei sind, sondern dass hier gem. § 68 Abs. 3 S 2 GKG auch eine Kostenerstattung kraft Gesetzes ausgeschlossen ist.

Das BAG befindet sich allerdings in guter Gesellschaft. Auch der BGH hatte schon unstatthafte Rechtbeschwerden beschieden. Dabei hat er sogar das Kunststück fertiggebracht, seine eigene Rechtsprechung zu ignorieren. So hatte er zunächst eine unzulässige Beschwerde in einem FGG-Kostenfestsetzungsverfahren beschieden (NJW 2003, 3133), dann aber solche Beschwerden generell für unzulässig erklärt (NJW 2004, 3412), um sie dann in NJW 2006, 2495 doch wieder zu bescheiden und schließlich festzustellen, dass sie doch unzulässig sind (NJW 2006, 2495).

Nun hat es auch das BAG erwischt. Jura könnte so schön sein, wenn nur nicht die blöden Gesetze wären.

Mit freundlicher Genehmigung des ZAP-Verlags
Ausgabe 14/2022, ZAP F., S. 699–700